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Die Erlebnisse und Eindrücke meiner Russlandreise vom 6. August bis 10. Oktober 2004 schrieb ich in meinem Russland-Tagebuch nieder, das ich bis zum 22. September 2004 vorzu an dieser Stelle veröffentlichte.

Das Russland-Tagebuch – Online Ausgabe
Online-Ausgabe (6. August – 22. September 2004)
als PDF-Download (2,2 MB)

Das Buch
Die gesamte Ausgabe des Russland-Tagebuchs gibt es nur in Buchform in limitierter Auflage.
104 Seiten, gebunden
Preis: CHF 30.– (plus Versandkosten)
Bestellung: tk@thomaskaufmann.com

Auszüge aus «Das Russland-Tagebuch»
Freitag,
6. August

Man glaubt es kaum, aber hört es immer wieder: Russland ist viel schöner, als man denkt. Die Menschen sind so wunderbar zurvorkommend, davon können wir uns ein Stück abschneiden. Armut macht die Menschen offen gegenüber Neuem und Fremdem. Und wenn man sich anstrengt, die wenigen Worte Russisch, deren man mächtig ist, zu sprechen, kann man selbst Beamten ein Lächeln auf die Lippen zaubern.
So ist es mir ergangen, als ich vor zwei Tagen in Russland angekommen bin und mich um die vielen Formalitäten kümmern musste, die anfallen, wenn man als Ausländer einreist. Die Schlangen vor den Schaltern sind unvorstellbar lang, und die Beamten dahinter unvorstellbar korrekt – darum dauert es auch seine Zeit. Mit einem bestimmten «Njet» antwortete mir der ältere Mann, der für die Visumregistration zuständig war, auf die Frage, ob er denn Englisch spreche. Da muss man einfach richtig reagieren, damit man in angemessener Zeit zum Ziel kommt. Und so erwacht die unerwartete Freundlichkeit.
Die Stadt ist wunderschön – aber auch nicht. Die Zaren wussten seinerzeit schon, wie man sich ein paar nette Paläste baut. So entstanden riesige Bauten mit grossen Plätzen. Und was ausländische Besucher interessiert, ist gut erhalten. Zumindest ist das im Zentrum so. In den Wohnquartieren der Arbeiter etwas ausserhalb sieht es anders aus. Die Tristesse ist unübersehbar. Die grossen Plattenbauten aus Sowjetzeiten gammeln vor sich hin, bleibt zu hoffen, dass es sich die Bewohner drinnen schön gemacht haben.
Es gibt so viel zu entdecken in diesem unbekannten Land, das eine unvorstellbare Grösse aufweist. Die Leute erwähnen immer wieder die gewaltigen Unterschiede zwischen Stadt und Land, Norden und Süden, Osten und Westen, Mensch und Tier. Ich bin guter Dinge, mich darauf einzulassen.
Dienstag,
24. August

Ich spreche bereits von «wir»: Unser Wolga hat sich auf der Weiterfahrt allmählich beruhigt. Vermutlich sind alle Pannen aufgetreten, die es geben kann. So waren dann mit der Zeit alle Teile ersetzt. Die aufkommende Hitze im Süden machte dem Auto wie auch uns zu schaffen. Unterwegs haben wir zwei Autostopper mitgenommen. Zu unserem Glück hatte einer von ihnen Ahnung von Motoren. Einige Mängel konnten durch ihn behoben werden, und wir wechselten uns mit dem Fahren ab. Michail hat mir später mal gesagt, dass dieses Auto schon lange in der Garage rumgestanden war. Nur wenig sei man damit gefahren, höchstens ins Dorf, weiter habe sich nie jemand getraut. Ich frage mich immer wieder, warum mir Vladimir diesen Wagen gegeben hat und nicht den BMW, der auch kaum benutzt wird, aber in einem besseren Zustand zu sein schien.
Für einen Fünfzehnjährigen hat Michail mächtig was drauf. Er spricht sehr gut Deutsch und kann sich auch auf Englisch verständigen. Deutsch kann er deshalb so gut, weil seine Grosseltern – die Eltern seiner Mutter – Deutsche waren. Während des Krieges waren sie aus Deutschland in die Sowjetunion geflohen, konnten aber auch in hier nur schwer überleben. Bei ihnen hat er viel Zeit verbracht. Englisch lernte er in der Schule und festigte es auf seinen tagelangen Internetsurftouren, wie er selber sagte. Michail schwärmte während der ganzen Fahrt von seinem Vater; er liebt ihn ohne Ende. Er erzählte mir von seiner Mutter, die nichts anderes mehr getan hatte, als von morgens bis abends Wodka zu saufen, bis Vladimir sie vor fünf Jahren rausgeschmissen hat. Michail erklärte mir, wie er das Wodkageschäft ausbauen will, wenn er alles übernehmen wird. Aber am liebsten redete er vom Punk. Er glaubt, nur dafür geboren zu sein, und will alles tun, damit er immer spielen kann. Michail hat eine grosse Klappe. Aber ich höre ihm gerne zu, wie er so unbeschwert von sich und seinen Plänen redet. Lange wollte er nicht damit rausrücken, warum er mit mir gefahren ist, ohne seinem Vater etwas davon zu sagen. Doch nachdem ich ihn einen halben Tag nicht beachtet hatte, was er überhaupt nicht ertragen kann, erzählte er mir, dass er so Vladimir erpressen will, damit er ihm die Gibson 76 Explorer besorgt, was er bisher nicht tun wollte.
Am Samstagabend sind wir dann mit zwei Tagen Verspätung zum Treffen mit unseren Leuten erschienen. Sie waren überhaupt nicht verwundert oder verärgert, dass es später wurde. In Russland liegen offenbar zwei Tage im Toleranzbereich. Das macht mir mit meinem Sinn für Pünktlichkeit natürlich ausgesprochen viel Freude. In der Schweiz wird man ja schon schief angeschaut, wenn man fünfzehn Minuten zu spät kommt. Die Besprechungen gingen anfangs etwas harzig zu, sind aber zu unseren Gunsten ausgegangen. Ich stosse mit meinem Russisch doch sehr oft an Grenzen. Dann hilft mir Michail weiter; er ist sehr wortgewandt und hält sich niemals zurück. Wenn unsere Verhandlungspartner nach meiner Einschätzung nicht mehr rumzubringen sind, sagt Michail noch cool «Stai mestov njostivo» – damit ist die übelste Hackfresse rumzukriegen, darauf folgt ein Nicken und die Sache ist geritzt. Ich weiss nicht, was ich ohne den Jungen gemacht hätte.
Wir haben in den vergangenen zwei Tagen fünfzehn Hektar Ackerland erworben, auf denen Vladimir Kartoffeln für die Wodkaherstellung anbauen will. Er gab mir den Auftrag, die schweigende alte Frau für das Land verantwortlich zu machen, damit sie es bewirtschaftet. Die Frau ist so alt; sie ist zu schwach, um das Land mit ihrer Infrastruktur
zu unterhalten. Darum ist der nächste Auftrag, entsprechende Geräte für sie anzuschaffen, so dass sie auf dem Land im grossen Stil anbauen kann. Erst wollte Vladimir das nicht einsehen, in solchen Situationen ist er ein skrupelloser Geschäftsmann. Jetzt bin ich ziemlich gefordert, eine gute Lösung zu finden. Ich hoffe, Michail wird mich dabei unterstützen.

Montag,
20. September
Ich sollte mir angewöhnen, mich auf meinen Instinkt zu verlassen. Es wären mir ein weiteres Mal viel Herzflattern erspart geblieben.
Kaum losgefahren folgte uns auf einer langen Überlandstrecke ein Polizeiwagen und gab uns zu erkennen, dass wir anhalten sollen. Vladimir fluchte leise, aber bestimmt, liess sich aber äusserlich nicht aus der Ruhe bringen. Während er rechts ranfuhr, instruierte er mich, nichts zu verstehen, keinesfalls auch nur ein Wort Russisch zu sprechen, den Ausweis zu zeigen, falls nötig, ihn nicht zu kennen, mich als Anhalter auszugeben. Er wisse schon, wie die Situation zu meistern sei. Zwei junge uniformierte Polizisten stiegen aus, der eine – fett – stolzierte langsam an Vladimirs Seite und fragte ihn, was der Grund der Fahrt sei. Der andere – unglaublich gut aussehend – inspizierte im Abstand von zwei Metern unseren BMW. Vladimir antwortete, dass er und sein Sohn gerade einen Besuch bei seiner kranken Frau abgestattet hätten. Wer ich denn sei, fragte mich der Beamte. Ich stellte mich nichts verstehend und schaute vom Polizisten zu Vladimir zurück zum Polizisten. Vladimir klärte ihn auf. Er sei zu schnell gefahren, das Nummernschild nicht gut sichtbar, der Wagen in einem schlechten Zustand, das gäbe eine hohe Busse.
Wir mussten aussteigen. Vladimir redete ruhig auf die Polizisten ein, dass er etwas für sie habe. Die Gehälter der russischen Polizieibeamten sind niedrig, und darum holen sie sich einen Zusatzverdienst aus der Bevölkerung. Auch wenn von der Regierung stets abgestritten wird, dass Korruption noch existiere. Vladimir zog unter dem Fahrersitz vier Flaschen eines gekauften Wodkas hervor und wollte sie den Polizisten geben. Der Fette begann laut zu lachen. Sie wissen genau, wer er sei, was er wohl glaube, sie mit vier Flaschen abzuservieren, da müsse schon mehr drin liegen. Vladimir lächelte – er wisse, was sie meinen – gab mit dem Kopf ein Zeichen in Richtung Kofferraum und ging darauf zu. Ich wollte auch hin, doch Michail hielt mich zurück.
«Langsam», sagte der fette Polizist. In der gewünschten Geschwindigkeit öffnete Vladimir den Kofferraum. Er schob die Taschen beiseite und griff unter die Wolldecke. Während er dem fetten Polizisten, der gleich neben ihm stand, in die Augen schaute, zog Vladimir mit einem Ruck eine Kalaschnikov hervor, drückte den Lauf dem fetten Beamten von unten an den Kiefer und lud durch. Der unglaublich Gutaussehende machte einen Schritt zurück, zog seine Pistole und richtete sie mit ausgestreckten Armen auf den Kopf des neu entstandenen Feindes. Vladimir drehte sich langsam weg, dass die Verlängerung des Laufes auf den Kopf des unglaublich gutaussehenden Polizisten zielte und er selber hinter dem fetten Deckung fand. «Soll ich gleich zwei Schädel auf einmal wegpusten?» fragte er in vladimirscher Ruhe. Er zog dem fetten Polizisten die Pistole aus dem Gürtel und warf sie zu Michail und mir herüber. Der Fette begann zu schwitzen, der unglaublich Gutaussehende zu zittern, ich auch. Michail trat einige Schritte zurück, um hinter dem Auto Schutz zu haben, zupfte mich am Ärmel meines Pullovers, damit ich mitging. Der unglaublich Gutaussehende begann etwas zu stammeln von Polizei und Vladimir habe die Waffe niederzulegen und von Recht und von Ordnung. In was war ich jetzt schon wieder reingeraten?
Vladimir verzog seine Miene noch immer nicht, drückte seine Knarre noch weiter in das Doppelkinn. «Ihr könnt doch nicht einfach so kommen», begann er, «und euch als Polizisten ausgeben, dann Geschenke fordern, und euch, weils brenzlig wird, wieder hinter der Maske des Beamten verstecken. Ihr untergrabt den Staat, das System, die Ordnung, das Gesetz. Kein Wunder geht es Russland mit solch abscheulichen Typen nicht besser.» Der Fette begann zu röcheln, weil ihm der Lauf der Kalaschnikov auf die Kehle drückte. Der unglaublich Gutaussehende sagte nichts mehr. Vladimir fuhr fort: «Mit Typen, wie ihr es seid, will ich nichts zu tun haben. Ihr seid das Hässlichste, was mir je begegnet ist. Mit Typen wie euch verhandle ich nicht, da kenne ich nur eine Lösung.»
Ich sah kommen, wie Vladimir seinen Finger langsam krümmte, die Kugel mit einem lauten Knall zuerst einen fetten, dann einen unglaublich gut aussehenden Kopf durchbohrte, Hirnmasse spritzte und zwei Menschen zeitgleich zusammensackten und mit grässlich zersplitterten Häuptern auf dem Asphalt liegen blieben. Das Blut bildete zwei Lachen auf der Strasse, die sich irgendwann zu einer grossen vereinten. Vladimir schritt langsam zurück um seine Schuhe nicht mit Beamtenblut zu beschmutzen. Geschockt brach ich zusammen, konnte mich mit einer Hand am Wagen mit der anderen auf dem Boden abstützen. Mein Magen stülpte sich um und ich musste kotzen. Aus dem offenen Kofferraum griff Vladimir eine volle Flasche seines Wodkas, küsste sie, und stellte sie zu den toten Polizisten auf den Boden. Ohne weitere Worte zu verlieren, setzte er sich in den Wagen und startete den Motor. Ich war auf allen Vieren und spuckte Speichelfäden. Meine Hände waren voll von Erbrochenem. Michail griff mir unter den linken Arm, hob mich hoch und schob mich auf den Rücksitz. Er selbst setzte sich vorne rein, legte den härtesten Punk ein, den es überhaupt gibt, und mit quietschenden Reifen fuhren wir los.
Doch Vladimir gab den Beamten noch eine Chance. Der unglaublich Gutaussehende hatte seine Pistole langsam niederzulegen und sich bis auf die Unterhosen auszuziehen, was er widerstandslos tat. Ganz in meinem Sinn! Er hatte eine makellose Statur, leicht muskulös mit breiten Schultern, einen wohlgeformten haarfreien Oberkörper und schöne glatte Haut. Auf der linken Hälfte seines flachen Bauchs war ein Tattoo in Form eines Dinosaurierkopfes sichtbar, der Rest verschwand unter seinem weissen Slip. Er sah blendend aus, machte jedoch momentan einen ziemlich hilflosen Eindruck. Dann hatte er sich bäuchlings vor dem Polizeiwagen auf den Boden zu legen. Unaufgefordert sprang Michail hinter dem BMW hervor, schnappte sich die Handschellen des Polizisten und kettete beide Hände an der Stossstange fest. Den Fetten nur in seinen gelben Boxershorts zu sehen, war kein sonderlich toller Anblick. Ihn führte Vladimir zur Rückseite des Wagen und befestigte ihn auf die selbe Weise an der hinteren Stossstange. Um die Füsse bekamen sie von Michail noch Kabelbinder verpasst. Der Junge sammelte die Kleider zusammen, schmiss sie in den Polizeiwagen, zog den Zündschlüssel und schloss ab. Den Schlüssel steckte sein Vater ein. Schon war die Sache erledigt. «Vladimir lässt grüssen!», rief er. Die Kalaschnikov legte er im Kofferraum wieder fein säuberlich unter das Tuch und stellte das Gepäck drauf. Ich stand mit zittrigen Beinen und eiskalten feuchten Händen regungslos neben dem Wagen. Ich muss ziemlich bescheuert ausgesehen haben. Vladimir hatte ein Lächeln im Gesicht und zwinkerte mir über das Dach des Autos zu. Michail kam hinzu und stiess mich mit beiden Händen so gegen meine Brust, dass ich aus dem Gleichgewicht kam. «Fährst du mit?», fragte er mich.
Spätestens jetzt steckte ich zu tief mit drin, als dass ich aussteigen konnte. Mir war alles andere als wohl bei der Sache. Polizisten bedrohen und fesseln – Scheisse, warum musste das geschehen? Wäre ich doch gegangen, bei der Tankstelle – ich hätte mir vieles erspart. Und wieder tauchten eine Tonne «wäre» und «hätte» auf, die mich immer wieder zur Verzweiflung bringen. Es nützt nichts, sich zurückzubesinnen, was man besser getan und gelassen hätte. Die Tatsache sieht in diesem Augenblick anders aus, und damit muss man fertig werden. Nur künftig kann ich auf meine Vernunft hören.
Die Situation war extrem schwierig. Hinter der eben durchstandenen Aktion konnte ich in keiner Weise stehen, wohl aber Vladimirs Handeln nachvollziehen. Sollte ich nun mit meinen seltsamen Freunden mitfahren und mich noch weiter in die Kreise dieser dunklen Machenschaften ziehen lassen? Wir würden zurück in Vladimirs Villa fahren, und alle würden so tun, als ob nichts geschehen sei, und wir würden uns im Genuss des Luxus suhlen. Oder sollte ich hier bleiben und die beiden Polizisten von ihren Fesseln und dem kalten Asphalt befreien? Wir würden irgendwie den Polizeiwagen aufbrechen können, irgendwie den Wagen starten oder jemanden anfunken können. Ich würde verhört, hätte jede Menge Fragen zu beantworten. Vladimir würde gejagt, weil es zu einer internen Abrechnung zwischen den beteiligten Personen ausarten würde, nicht weil es sich um einen Gesetzesverstoss handelte. Vladimir käme in den Knast oder würde umgebracht, Michail würden sie in ein Heim stecken, die ganze Band, Ludmilla, Schamil – Boris auch? – würden ohne Einkommen da stehen. Und ich könnte nach tage- oder wochenlanger Befragung vielleicht endlich nach Hause reisen, oder bekäme eine Strafe wegen Beteiligung an dubiosen Geschäften.
«Fährst du mit?», fragte Michail. «Ja, klar!», antwortete ich. Der fette Polizist schrie von hinten, dass wir alle Arschlöcher seien und dass sie uns kriegen würden. Der unglaublich Gutaussehende schaute mir mit einem flehenden Hundeblick in die Augen, er hatte ziemliche Verrenkungen zu machen in seiner Position. Wir fuhren los und hörten klassische Musik.
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